Die letzten Wochen waren, sozialmedial betrachtet, ein ziemliches Fiasko. Angefangen bei #merkelstreichelt über Dieter Nuhrs Griechenwitz bis hin zu Denkverboten für Monica Lierhaus und tiefrechten Drohungen an Sascha Lobo – das Land der Dichter und Denker erschien mir in letzter Zeit eher wie die Heimstatt der Schreihälse und Hetzer. Bei mir löste diese Stimmung erst großes Unwohlsein und dann Rückzugstendenzen aus Facebook und Twitter aus; ich habe mich aller Diskussionen enthalten und mich nur noch zu Flauschthemen geäußert. Mit ein wenig Abstand möchte ich aber dennoch versuchen, ein paar Gedanken dazu zu ordnen.
Die Renaissance des Shitstorms
War es 2013 oder erst 2014, als ich in Workshops, privaten Gesprächen etc. selbstbewusst und überzeugt verkündete, der Begriff „Shitstorm“ hätte seinen Zenith überschritten und mittlerweile könnten Unternehmen, Promis und Privatpersonen Empörungswellen im Netz differenzierter betrachten und einordnen? Egal – ich lag falsch. In den letzten Wochen habe ich „Shitstorm“ gefühlt so häufig gelesen und gehört wie im ganzen letzten Jahr nicht. Artikel wie dieser in der Süddeutschen Zeitung erreichen kurzzeitig auch 1.0-ig ein großes Publikum – einer Großwetterlage, in der eine Geröllwelle nach der anderen lustvoll anrollt, scheint dies aber zunächst nichts anhaben zu können.
„Click-mich-jetzt“: Verantwortungslose Medien als Aasgeier des großen Fressens
Was weinen die „klassischen Medien“ über ihren Bedeutungsverlust, wie gern erheben sie sich moralisch und berufsethisch über die minderwertige und unqualifizierte Contenproduktion und Diskussion in Blogs und Social Networks. Nur sie könnten hinterfragen, recherchieren, analysieren, kuratieren…
Wieso tun sie es denn nicht? Wieso nutzen gebühren- und abonnentenfinanzierte Medien nicht ihre behauptete Qualifikation als Gatekeeper, um zu entschleunigen, zu versachlichen, objektivieren… und machen sich stattdessen regelmäßig zur Hure für den schnellen Klick? Mit ihren Followerzahlen und (noch) großem Vertrauensvorschuss, gerade bei „traditionelleren“ Medienkonsumenten hätten sie die einmalige Chance, sich mit journalistischer Kompetenz eben nicht mehr über Geschwindigkeit (die Zeiten sind eh vorbei), sondern über Entschleunigung und Qualifizierung von Inhalten zu positionieren. Stattdessen missbrauchen sie ihre Verantwortung und übernehmen im Namen des schnellen klickgenerierten Mammons eine traurige Vorreiterrolle im großen „Wer-frisst-Wen“ des Internets.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Der NDR hat in seiner verkürzenden und sinnentstellenden Social Media-Aufbereitung der Begegnung des palästinensischen Flüchtlingsmädchens und der Bundeskanzlerin etlichen Medien eine Steilvorlage geliefert. Etwas später sah ich in der FAZ eine längere Version dieses entglittenen“Bürgergesprächs“ – aber da war der Geist schon aus der Flasche und belegbar falsche Headlines wie „Hier sagt die Kanzlerin einem Flüchtlingskind, dass es abgeschoben wird“ (kann ich leider nicht mehr als Quelle belegen) in der Welt. Ist es denn wirklich so schwer, im Jahr 2015 den sozialen Sprengstoff eines solchen Videoschnitts zu erkennen? Oder zumindest im Nachhinein Versäumnisse einzugestehen?
„Du darfst so bleiben, wie du bist“ – Wie viel Authentizität vertragen wir noch?
Um keine Missverständnisse entstehen zu lassen: Auch mir haben sich bei Merkels Empathiedarbietung die Zehnägel aufgekräuselt, auch ich hätte mir eine weniger technokratische Sprache und ungelenke Reaktion in dieser Situation gewünscht. Aber: Dies ist Angela Merkel, die promovierte Physikerin, die sich wohl niemals locker und knuffelbar in der Öffentlichkeit bewegen wird wie ein Obama (Al Green, Anyone?). Sie hat – das sieht man im NDR-Kurzschnitt nicht – angedeutet, dass die Chancen auf eine Aufenthaltsgenehmigung in der geschilderten Situation gut seien. Sie war sichtlich bewegt, als das Mädchen anfing zu weinen – und mir persönlich war diese Kanzlerin nie menschlich so sympathisch wie in dieser offensichtlichen Überforderungssituation. Kein Drehbuch hätte sie in dieser Situation so ungelenk aussehen lassen. Welche Alternativen die lautesten Kritiker sich gewünscht hätten (populistische Einzelfallentscheidung, ordre qua Mutti, sozusagen (sorry!) – ehrlich?) ist mir schleierhaft. Aber die folgende Häme wurde meiner Meinung nach nicht nur ihr nicht gerecht, sondern instrumentalisierte auch noch die eigentliche Hauptperson des Geschehens – Reem, die voraussichtlich in Deutschland bleiben darf.
Das bringt mich zur Kernfrage: Wie erträgt und bewältigt man als Einzelperson, ob Lieschen Müller oder Person des Zeitgeschenens, diese Dynamik, wie bewältigt man den direkten, oft erschreckenden, Blick in die Hirnwindungen abertausender Menschen? Kompletter Rückzug ist für die Merkels, Schweigers und Lobos dieser Welt keine Option, zumal sie Social Media auch gut für ihre (und andere, siehe Till Schweigers‘ Engagement für Flüchtlinge in Hamburg) Zwecke zu nutzen wissen.
Eine kluge und allgemeingültige Antwort weiß ich leider nicht, ich bin offen für Anregungen. Ich glaube, es ist ein bisschen wie beim Radfahren auf stark befahrenen Straßen: Ich muss mir den Platz nehmen, den ich brauche – respektvoll anderen Verkehrsteilnehmern gegenüber, vorausschauend in Gefahrensituationen, und ohne beim ersten hupenden Autofahrer verängstigt auf den Bordstein zu springen und zurückzuschimpfen. Ohne diese Pufferzone, die sowohl dem eigenen Schutz als auch einem funktionierenden Fluss dient, kommen wir unter die Räder.
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