Phasen großer Veränderungen – echte gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche Umwälzungen, keine Projektchen – brauchen Leit- und Identifikationsfiguren. In Unternehmen erlebe ich aber in den letzten Jahren verstärkt Führungskräfte, die sich eher nach einem Sandhaufen für ihren Kopf zu sehnen scheinen. Wenn ich lese, dass Mitarbeiter ihren Firmen digital überlegen sind, frage ich mich weniger, ob Führungskräfte plötzlich alle inkompetent sind (auch, wenn sich Gunter Duecks Rant zu „Mehr vom Gleichen“ herrlich pointiert liest), sondern eher: Was genau hemmt sie?
„Immerhin 45 Prozent der Firmen wollen zwar innerhalb der nächsten drei Jahre eine Digitalstrategie entwickeln und umsetzen; aber beinahe jedes dritte Unternehmen erwägt noch nicht einmal, die Geschäftsstrategie der Digitalisierung anzupassen“ (Accenture, 2015)
Meine persönliche Hypothese dazu lautet nicht erst seit gestern: Sie sind verunsichert, sie haben Angst. Die Herausforderungen erscheinen erdrückend, wie der sehr lesenswerte aktuelle HR-Report von Hays belegt: Umgang mit Veränderung und Komplexität, dabei die Glaubwürdigkeit wahren – die Entscheider erkennen die Lücke zwischen Anspruch und Umsetzung absolut. Von selbstgefälliger Fehleinschätzung kann also keine Rede sein, solange man sich nur in anonymen Befragungen „outen“ muss.
„Digitale Transformation“: Angstbesetzt und wenig praxistauglich
Und dann kommen wir Berater daher und reden von „Digitaler Transformation“. Von „Industrie 4.0“. Alles große, erschlagende Kampfbegriffe, die meiner Meinung nach in diesem Klima der individuellen und systemischen Verunsicherung wirken wie eine böse, unsichtbare, unbesiegbare Macht – ein Voldemort, der uns wahlweise wegducken, in Aktionismus verfallen oder in Schock erstarren lässt. Klarer Blick und Energien aktivieren irgendwie ausgeschlossen.
„Unbossing“ ist noch so ein schönes (Er-)Schlagwort. Ein Jahrhundert nach Einführung des Taylorismus sollen die Bosse nicht abgeschafft, sondern Führung „nur“ neu definiert werden. In einem historischen Doppelflipp – vom visionären Unternehmer über den Manager, der als lebendiges Prozessablaufchart den Laden zusammenhält, wieder zurück zum inspirierenden Motivator, der Teams zum Selbstmanagement führt und dabei ganz souverän auf sein Expertentum, das Seepferdchen seiner Führungsqualifikation, verzichtet. A little bit of history repeating, nur besser und schneller. Is‘ klar.
Wo also ist der Ausfahrt von der schlauen Rede in Richtung Unterstützung? Nur ein paar Vorschläge, wie Führungskräfte wieder Raum erobern und als handlungswillig und -fähig erlebt werden:
Überschaubare Arbeitsräume: Die eigenen Themen für die Kommunikation finden
Das Erschlagende am V-Wort (Digitale Transformation, ein letztes Mal zur Erinnerung) ist doch der Eindruck, dass es gleichzeitig nichts und irgendwie doch alles mit dem eigenen Business und der eigenen Mannschaft zu tun hat. Dabei verliert sich oft der Fokus auf die konkreten Arbeitsfelder und die Prioritäten: Fehlt es uns an Expertise und Experten (das wahrscheinlich kleinste Problem), ist eine Unternehmenskultur gewachsen, die Innovation und Kollaboration bremst, verstehen wir unsere Kunden und Märkte überhaupt noch? Die Digitalisierung passiert so oder so; bei der Frage nach den eigenen Anschlussstellen kann ein nüchterner Blick von außen helfen. Fast noch besser: Die eigenen Mitarbeiter und Kunden fragen, wo’s hakt. Vielleicht viel souveräner als ein Vorgaukeln des kompletten Überblicks – wer soll das auch noch glauben?
Individuelle Freiräume: Coaching ermöglicht Handlungsspielraum
Wie gesagt – ich glaube nicht, dass die deutsche Wirtschaft mit inkompetenten Führungskräften gestraft ist. Dass Viele vornehmlich aus den falschen Gründen (reine Fachkompetenz, wachsende Geheimratsecken, Stallgeruch, Geschlecht…) in ihre Position gekommen sind, heißt ja noch lange nicht, dass sie ihre Rolle und ihr Verhalten nicht anpassen könnten. Wie viele der heute oberflächlich betrachteten „Realitätsverweigerer“ ihre Teams wohl so richtig flashen könnten? Wie viele Ingenieurinnen, Betriebswirte und sonstige Lenker und Leiterinnen wohl mit ansteckender Begeisterung und Leidenschaft ihren Beruf ergriffen und sich dann karrierewillig die Flügel haben stutzen lassen? Ich glaube: So einige. Und einer der besten Gründe, warum so viele Führungskräfte sich coachen lassen, ist sicher diese Selbstvergewisserung: Welche Rolle spiele ich, was kann ich als Führungskraft leisten, wie beeinflusse ich das um mich herum gewachsene System so, dass eine positive Entwicklung denkbar und möglich wird?
Proberäume für neues Verhalten: Workshops und kollaborative Formate
Rome wasn’t build in a day. Der Anspruch, immer, alles, sofort und perfekt machen zu wollen, erscheint mir typisch deutsch und ein tückischer Gegenspieler in einer Zeit, in der wir alle nur probieren und damit mehr oder weniger gewinnen können (im Gegensatz zur vermeintlichen Risikovermeidung, dem Kopf-in-den-Sand-Habitus, bei dem man aber einen unentdeckten Tritt in den Hintern riskiert. Ich danke an dieser Stelle Herrn Jansen für dieses schöne Bild). Und die beste Lösung, die eigene, erarbeitet man sich idealerweise transparent selbst. Berater können hier moderierend, unterstützend und sicher auch mit Fachkompetenz unterstützen – aber die Zeit der schlüsselfertigen Konzepte ist (Gott sei Dank) vorbei.
Disclaimer: Ich habe mich schwer getan mit diesem Text, weil ich eben nicht plump auf meine eigenen Tätigkeitsfelder zusteuern wollte – ja, ich biete Kommunikationsberatung, Workshops und Coaching an, und ich freue mich immer über Anfragen. Tatsächlich spiegelt dieses Gedankendickicht aber meine sehr präsenten Überlegungen wieder, wie man vom „Problemfilm“ zum „Zielfilm“ kommen kann, wie der Systemiker sagen würde. Positiv formuliert herrscht hier also große Authentizität; ich komme darauf zurück, wenn ich auf des Pudels Kerne stoße…
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