Zum zwölften Mal erschien im November die Leipziger Autoritarismus-Studie.
Ich habe mich durchgefräst (wozu hat man sieben Semester Sozialpsychologie studiert?) und zitiere die für mich persönlich interessantesten Ergebnisse.
Erster Fokus: “Industrial Citizenship”, also: Wir als Bürger*innen im Betrieb
Etwa 72 Prozent (Ost) und 62 Prozent (West) der Befragten glaubt, dass es sinnlos sei, sich politisch zu engagieren. Das sind leicht verbesserte Werte im Vergleich zu 2022 (Corona-Schock? Überfall auf die Ukraine?) Wirklich schockierend finde ich die Einschätzung zu Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten im Betrieb:
- „Ich fühle mich bei Entscheidungen im Arbeitsalltag übergangen“ sagen deutlich in diesem Jahr doppelt so viele Menschen wie bei der letzten Befragung. Im Osten hat sich der Wert auf 30% verdreifacht, im Westen hat er sich auf 14% erhöht (von knapp 9%).
- „In meinem Betrieb kann ich offen über Betriebsräte oder Gewerkschaften sprechen, ohne Nachteile befürchten zu müssen“: Hier ist die Zustimmung im Westen bei gut 50% geblieben. Im Osten jedoch: Runter von 45% auf 27%.
- „Probleme oder Konflikte im Betrieb löse ich am besten mit Kollegen“: Hier ist die Zustimmung wieder im Westen leicht gesunken auf 62% und im Osten von 69% auf unter 50% gefallen.
- „Wenn ich in meinem Betrieb aktiv werde, kann ich etwas zum Positiven verändern“ – ähnliches Bild, nur dass sich die Zustimmung im Osten fast halbiert hat auf ca. 29%.
Wie kommt das?
Weder die wirtschaftliche Lage noch die tatsächlichen Mitgestaltungsmöglichkeiten taugen als Erklärung. Die Studie spricht von einem „Spillover“-Effekt dieser Erfahrung bzw. Einschätzung im betrieblichen auf die politische Ebene (Wahlergebnisse stützen dies).
Ich vermute diesen Effekt aber auch andersherum: Den Menschen wird eingeredet, sie seien ohnmächtig, steckten in bedrohlichen Krisenszenarien, die autoritäre Lösungen verlangen (politisch und wirtschaftlich).
Dieses Narrativ verfängt.
Das treibt Einzelne in eine Opferhaltung, die das Vertraute sucht und alles Neue/Andere stark ablehnt. Einen Mangel an Selbstwirksamkeit zu empfinden, macht Menschen unzufrieden, wenig
belastbar/resilient, krank. Das schwindende Vertrauen in das „Kollegiale“ trägt weiter zu Vereinsamung und Verbitterung bei.
Interessanterweise ist das Weltbild der Menschen im Osten durch die großen Krisen der letzten Jahre deutlich weniger ins Wanken geraten als das der Befragten im Westen. Das hätte ich gern als größere Resilienz durch biografische Krisenerfahrung, Selbstvertrauen… interpretiert.
Die Zahlen sprechen allerdings deutlich klarer für zunehmende Resignation. Einige Autoritarismus-Marker sind Im Westen übrigens stärker ausgeprägt (Sozialdarwinismus und Anti-Semitismus beispielsweise).
Was folgt daraus?
Eine sendende (Führungs-) Kommunikation bekommt nicht mit, wenn Menschen sich isolieren. Um wirtschaftliche Flauten und nötige Veränderungen zu bewältigen, braucht es aber Zuversicht, dass sich Probleme lösen lassen, und Räume, in denen diskutiert, und gelernt werden kann.
Dialogformate öffnen die Zwischenwelt zwischen „Verstehen“ und „zu Potte kommen“ und können die negative Dynamik der selbsterfüllenden Untergangs-Szenarien umkehren.
Teams mit einem hohen Grad an psychologischer Sicherheit erleben sich als selbstwirksam und sind erwiesenermaßen am effizientesten.
Wenn Führung dies ermöglicht (anstatt im schlimmsten Fall selbst den Rückzug anzutreten), verlieren „einfache Antworten auf komplexe Fragen“ und Sündenböcke an Attraktivität. Wer sich im Job als mündig, wertvoll und gestaltungsmächtig erlebt, lässt sich auch politisch nicht so leicht als Stimmvieh missbrauchen.
Mehr Governance und Information
Themen wie Diversity als freiwilliges Modul kann sich kein Unternehmen mehr leisten. Damit Organisationen nicht zur Brutstätte autoritärer Einstellungen werden, in denen Zusammenarbeit immer schwieriger, unangenehmer und unter Umständen gefährlich wird, braucht es klare Regeln, Grenzen und vor allem auch Aufklärung.
Unternehmen tragen Verantwortung für ihre Mitarbeitenden und sind der naheliegendste Ort, um täglich Dialog und Entwicklung zu gestalten – da wären wir wieder bei den beiden vorigen Punkten.