Coaching Online: Sorgt Distanz für Distanz? Wie die Wissenschaft den Nutzen eines Trends untermauert.

Seit zwei Jahren arbeite ich als systemischer Coach. Die Möglichkeit, sich als Coachee in einem geschützten Raum mit den eigenen Fragen und Unsicherheiten entwickeln zu dürfen, ohne belehrt, im Expertensinne beraten oder gar bewertet zu werden, empfinde ich schon lange und auch aus eigener Erfahrung als rare und wertvolle Erfahrung. Und ich habe diesen „Raum“ für mich selbst bisher nicht nur als zeitliche oder gedankliche Ressource, sondern auch als einen physischen Ort gesehen.

Mit Kaktus, Prince und Blick über Hoheluft: Hier finden momentan meine Coachings statt.

So nachvollziehbar und folgerichtig ich den Trend zu Online-Beratung in unserer schnellen, Flexibilität fordernden und ermöglichenden (Arbeits-)Welt finde: Ist unser Alltag nicht digitalisiert-effizient genug durchorganisiert; spielen non-verbale Kommunikationselemente und die persönliche Beziehungsebene im Coaching nicht eine zu wichtige Rolle, als dass man darauf auch hier noch verzichten könnte und wollte?

Es spricht (schreibt) also offensichtlich eine Skeptikerin, was Coaching auf Distanz angeht. Bis vor wenigen Wochen konnte ich mir Coaching online zwar als reine Weiterführung bestehender Live-Coachings vorstellen, habe aber die Vorteile von Präsenz über- und die der Distanzformen unterbeleuchtet. Das wurde mir kürzlich beim Dialogforum des Branchenverbands DBVC bewusst: Prof. Hansjörg Künzli vom psychologischen Institut der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) präsentierte dort einen Überblick über Studienergebnisse zu Online-Coaching (dazu gehört neben Skype und Chats auch die gute alte E-Mail) und, um es direkt vorweg zu nehmen: Die wirksamsten Interventionen sind tatsächlich die im gemischten Setting, also einer bedarfsorientierten Kombination aus Präsenzterminen und Onlineszenarien.

Meine persönlichen A-Ha-Momente, völlig ungewichtet:

  • Die persönliche Beziehung zwischen Coach und Coachee leidet nicht im Online-Coaching. Teilweise ist das sogar Gegenteil der Fall: Der Coachee beschäftigt sich beispielsweise weniger mit angenommenen Erwartungen und Rückmeldungen des Coaches, bleibt stärker bei sich und seinem Thema. Dazu kommt, dass jede persönliche Beziehung reale und imaginierte Bestandteile hat (Watzlawicks Hammerstory bringt das sehr schön auf den Punkt).
  • Auch die Geschwindigkeit, mit der die gecoachte Person im Mail oder Chat teilweise „zum Punkt“ kommt, ist beeindruckend. Dass wir Menschen faule Wesen sind und uns schriftlich stärker fokussieren, ist wenig überraschend. Dass Zustände, Gefühle etc. aber schriftlich häufig exakter formuliert werden, als dies in gesprochener Form geschähe, habe ich bislang allerdings zu wenig bedacht in meiner persönlichen „Cyber-Abwehr“.
  • Emojis – was auch immer man als sprachverliebte Person von ihnen hält – können eine große Hilfe sein: Vielen Menschen fällt es beispielsweise leichter, tiefe Traurigkeit durch eine Reihe heulender Smileys auszudrücken als auszusprechen „das macht mich sehr traurig“. Eine solche Selbstoffenbarung kann ein Coaching entscheidend weiterbringen, ist aber oft eine enorme, teils mit Scham behaftete Hürde (da sind wir wieder bei der „persönlichen Beziehung“ und ihren Pferdefüßen im Präsenzcoaching).
  • Kontrolle und Flexibilität: Der von mir so hoch gewichtete „Raum für Coaching“ in Form eines persönlichen Treffens birgt auch Risiken: Was, wenn ich mir als Coachee die Zeit freigeschaufelt habe, in die Stadt gefahren bin, und mit dem Kopf trotzdem ganz wo anders bin? Oder wenn ich mein Coaching eher in einer akuten Stresssituation nutzen würde und mir da wenige Minuten mit meinem Coach sehr behilflich sein könnten? Meiner Meinung nach ein sehr valider Punkt – und, nebenbei bemerkt, eine aus betriebswirtschaftlicher Sicht herausfordernde Fragestellung, mit der jeder Coach verantwortungsbewusst umgehen muss.

Zu den möglichen negativen Folgen der Kanal- (und Sinnes)reduktion gehören beispielsweise eine geringere Verbindlichkeit und stärkere Dissoziation („nur ein Spiel“, „hat nicht so viel mit mir zu tun“) der Coachees. Ich persönlich schätze es auch als deutlich schwieriger ein, die zunächst versteckten „Themen hinter den Themen“ zu finden, die sich oft über körperliche Reaktionen (Mimik, Anzeichen von Stress…), in längeren Reflektionsphasen, über gezielte Fragen oder kreative, non-verbale Methoden darstellen lassen.

Soviel über meinen (mehr persönlichen als akademischen) Lernprozess. Ich bin gespannt auf mehr Coachings im Kanalmix und führe diesen Beitrag gern fort!

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